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Chancengleichheit durch Sprache? Über sprachliche Integration von Kindern und Eltern mit nicht-deutscher Muttersprache

„Kommunikation hilft“ - eine ähnliche Nullaussage wie: „Sauerstoff, tolles Zeug“! Ja, natürlich wollen und müssen wir kommunizieren. In einer Stadt mit mehr als 53% Kindern nicht-deutscher Muttersprache geht dieses angestrebte Ziel aber oftmals mit Segregation und Ausgrenzung einher.

„Sprich Deutsch!“, „Lernt erstmal Deutsch!“, diese Forderungen hört man oft auf Schulhöfen und bei deutschsprachigen Elternabenden. Natürlich, Deutsch ist die Landessprache. Es wäre erstrebenswert, wenn diese jede:r hier Lebende beherrschen würde, um gelungene Kommunikation zu ermöglichen. Doch ist die Imperativform „Lernt!“ ähnlich komplex wie die des Modalverbs „wollen“!. Wer nicht will, wird nicht lernen. Wer muss, wird möglicherweise auch nicht lernen. Wie schaffen wir es also, den Kindern und oftmals auch den schon lange hier lebenden Erwachsenen die Freude an der deutschen Sprache zu vermitteln? Meistens schaffen wir das nicht durch Gesetze, durch Deutschförderklassen oder AMS-Maßnahmen. Sprache ist sensibel, Sprache ist oft Teil der Identität, Sprache ist sensibler Teil der Identität, sie kann oft Stigma sein. Spracherwerb muss gewollt sein, ein eigenes Bedürfnis, welches das Kind meist dann entwickelt, wenn es mit Gleichaltrigen spielen und kommunizieren kann und will. Dann entsteht ein intrinsischer Lernprozess, der beinahe von selbst zu Spracherwerb führt. Und Kinder wollen meistens lernen. Vor allem die kleinen. Den größeren wird es leider häufig in der Schule abtrainiert. Lernen als Strafe, als Zwang, als Pflicht. Weg von der natürlich Neugierde hin zu einem starren Notensystem und drohenden Konsequenzen für die Bildungskarriere. „Wenn du nicht, dann!“

Ich unterrichte seit vielen Jahren Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. In Chile, in Deutschland, der Schweiz und in Österreich. Eine meiner beeindruckendsten Schülerinnen war Lara aus Ungarn. Sie war 18 Jahre alt und hatte sich in den österreichischen Skifahrer Gregor Schlierenzauer verliebt. Sie kannte ihn nur aus Funk und Fernsehen - oder Social Media möglicherweise - dennoch kam sie damals nach Graz und wollte Deutsch lernen. Um mit Gregor sprechen zu können. Sie lernte die Sprache fließend und akzentfrei in drei Monaten. Motivation ist alles. Ist es das? In der Linguistik ist die Spracherwerbsforschung eine komplexe und sich ständig verändernde Disziplin. Was bedarf es für einen gelungenen Spracherwerb? Spielt das Alter eine Rolle? Die Begabung? Die Motivation? Die frühkindliche Erziehung und/oder Mehrsprachigkeit? Die Bildungsnähe des Elternhauses? Das Sprachbad?

Die Antworten sind seit Jahrzehnten gleichermaßen unbefriedigend wie vage. Es bedarf aller Komponenten - in wechselndem Ausmaß. Was dem Erwerb nicht förderlich ist, sind Zwang und Ausgrenzung. Deutlich gezeigt haben dies in den letzten Jahren die von ÖVP & FPÖ eingeführten Deutschförderklassen. Hierzu liegen einschlägige Studien vor.

Unbestritten ist, dass es hilft, die Landessprache zu sprechen. Unbestritten ist auch, dass man dies so früh als möglich so viel wie möglich fördern sollte. Aber eben fördern und nicht nur einfordern. Wenn Menschen zum Beispiel unfreiwillig nach Österreich kommen, also aus Kriegsländern flüchten, dann ist es nicht ihr Primärinteresse, die Sprache zu erwerben und Teil der Gesellschaft zu sein, sondern es geht erstmal um das reine Überleben. Wenn Menschen aus wirtschaftlichen Gründen nach Österreich kommen und ihnen bei jeder alltäglichen Handlung gezeigt wird, dass sie nicht willkommen sind und weniger wert, zum Beispiel bei der Wohnungssuche, bei plötzlichen Besuchen vom Jugendamt, bei Elternabenden, dann wird auch dies ihre Motivation nicht steigern, Teil der Gesellschaft zu werden und die Landessprache zu erwerben. Wenn Menschen nach Österreich kommen, die nur wenige Jahre oder vielleicht noch nie die Schule besucht haben, dann wird die Sprachvermittlung, der oft erst die Alphabetisierung vorangeht, nicht wie gewünscht vonstatten gehen.

Was braucht es also, um in einer polynationalen Gesellschaft, die Wien seit Jahrhunderten ist, ein gelungenes Miteinander zu erreichen? Ja, Schulen sind ein Schlüsselfaktor. Jedes Kind muss sie durchlaufen, sie können Lebenswege positiv prägen oder auch vernichten. Wir können es uns nicht leisten, Kinder aufgrund ihrer defizitären Deutschkenntnisse per se auf Mittelschulen zu schicken, sie dort noch für ein bis zwei Jahre in separaten Klassen zu unterrichten und ihnen somit eine reale Chance auf eine akademische Karriere zu verwehren. Haben diese Kinder das Glück, Englisch oder Französisch (Schwedisch oder Japanisch) zu sprechen, gehen sie auf „internationale“ Schulen wie das Lycée Français de Vienne oder die Amadeus international School.

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Sprechen sie jedoch - wie die meisten nicht-deutschsprachigen Zugewanderten Rumänisch, Serbisch oder Türkisch, landen sie per se auf einer Mittelschule, meistens in einer separaten Deutschförderklasse. Sie verlieren dann bis zu vier Schuljahre und sind schon allein davon demotiviert, nie mit Gleichaltrigen unterrichtet zu werden. Sich jedes Jahr neue Freunde suchen zu müssen, viele davon ebenfalls mit einer anderen Muttersprache (Erinnerung an oben: 53% der Kinder an Wiener Mittelschulen sprechen Deutsch nicht als Familiensprache). Häufig werden sie hierdurch frustriert und verlieren die Lust am Erwerb der deutschen Sprache. Den Eltern geht es nicht anders. Sie sind zum Teil in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Österreich gekommen. Tatsächlich sind sie bei Elterngesprächen oft mit einer renitent einsprachigen Lehrperson konfrontiert - wenn sie sich überhaupt hinzugehen trauen.

Mein Wunsch: Erkennen wir alle Sprachen als gleich wertvoll an. Kommen wir den Zugewanderten ein Stück des Weges entgegen. Mit Videodolmetschen gibt es in Wien die wunderbare Möglichkeit, Elterngespräche auf 53 Sprachen zu führen. Und trauen sich die Eltern erst mal in die Schulen, ist der erste Stein gelegt.

Schicken wir die Kinder auf Schulen, die ihren kognitiven Leistungen entsprechen - egal aus welchem Land sie kommen. Geben wir jedem Kind die Chance, auch mal zu glänzen! Denn langfristig können wir es uns als Gesellschaft nicht leisten, diese Kinder im Vorfeld auszusortieren und dadurch nicht nur den Fachkräftemangel anzuheizen, sondern auch die Kosten einer zunehmenden sozialen Spaltung zu tragen.

Motivation für Spracherwerb entsteht auch durch Chancengleichheit. Und Bildungsgleichheit schaffen wir nur, wenn wir die Kinder nicht so lange auf Abstellgleis bugsieren, bis sie die Zielsprache auf dem Niveau B1-B2 beherrschen. Denn dies kann bis zu sechs Jahren dauern. Und bis dahin haben wir sie sonst verloren.

Über die Autorin

Mag. Franziska Haberler (*1978) hat in Bielefeld Anglistik, Deutsch als Fremd- und Zweitsprache sowie Texttechnologie studiert. Sie unterrichtete seit mehr als zwei Jahrzehnten Kinder, Jugendliche und Erwachsenen in verschiedenen Ländern und an verschiedenen Bildungsinstitutionen; seit vier Jahren ist sie an Wiener Mittelschulen tätig. Nebenberuflich beschäftigt sie sich viel mit Digitalisierung, künstlicher Intelligenz und ist als Autorin bei Schulgschichtn und der Bildungsplattform lörn tätig. Zwischendurch hat sie mit ihren vier Kindern die Welt umsegelt und hatte dabei viel Zeit zum Nachdenken.

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